Psycho-News-Letter Nr. 42 : Theorie und Mimesis
Manchmal geht es einem beim Hören einer Oper so, dass man zunächst nicht versteht, warum der Komponist gerade diese Musik zu jener Handlung gewählt hat. Ich spiele manchmal Studenten die Wahnsinns-Arie aus Donizetti's „Lucia di Lammermoor" vor. Da sie meist die Oper nicht kennen, kann ich sie gut raten lassen, um was es sich wohl handele? Fast immer meinen sie, es handele sich um eine Liebesszene - was kein Wunder ist, wenn die zärtlichsten Koloraturen duettierend von einer Flöte akkompagniert werden, die wie ein Echo im Liebesgeflüster den musikalischen Affekt aufnimmt und vollendet. Was Wahnsinn ist, kann man ja dann verstehen: denn Lucia ist von ihrem Bruder um die Ehe mit ihrem Liebsten gebracht worden, hat erzwungen und mit gefälschten Briefen betrogen in eine andere Ehe eingewilligt und vollzieht in Treue zu ihrer wahren Liebe einen Mord am ihr zugewiesenen Ehemann. Als sie aus dem Schlafzimmer vor der Hochzeitsgesellschaft erscheint, mit erhobenem blutigen Messer in der Hand, rührt die Mörderin uns zu Tränen, weil ihre Tragik ihr unerbittlich eine Handlung aufnötigte, die ihr fremd ist und ihr nur die Flucht in den Wahn läßt - aber das in der Vertonung von Donizetti zu hören, braucht die Stimmen einer Diva wie der Callas oder der Gruberova und ergreift uns mit ebenso unerbittlicher psychologischer Gewalt. Wir im Publikum reagieren mimetisch, unsere Reaktion entspricht in Bestürzung und Mitleid derjenigen der Beteiligten; sogar unser Haß gilt dem Bruder, dem wahnsinnigen System der Ehre, dem er folgt und man verwünscht, dass nicht er es ist, der dem Wahnsinn verfällt.
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